19.10.2020
Wie Discovery Sprints remote funktionieren
Ein Team. Fünf Tage. In einem Raum. Eine Woche, um ein Problem zu analysieren, Ideen zu entwickeln, sie prototypisch umzusetzen und zu testen. Das ist der klassische Google Ventures Design Sprint nach Jake Knapp. In Zeiten von Corona waren bei unserem Discovery Sprint mit Merck* Flexibilität und Kreativität gefragt. Wie wir den Prozess an die neuen Gegebenheiten angepasst haben, erzählen euch Christiane Dietz (Senior Expert HR Talent & Development Digitalization, Merck) und Henrik Rieß.
*Merck KGaA, Darmstadt, Deutschland (nachfolgend Merck genannt)
Prozessdigitalisierung mit Discovery Sprint
Worum ging es in dem Projekt? Warum habt ihr euch für den Prozess „Design Sprint“ entschieden?
Christiane: Bei Merck findet einmal im Jahr eine internationale Talent-Konferenz auf Geschäftsleitungsebene statt. Dort wird die Nachfolgeplanung für alle strategischen Positionen besprochen. Die Vorbereitung und Durchführung laufen aktuell noch sehr manuell. Außerdem gibt es viele unterschiedliche Systeme, die als Datenquellen dienen. Dieser Prozess soll daher einfacher, visuell ansprechender und digitaler werden. Im Design Sprint mit UID erarbeiteten wir Ideen, wie wir diese Herausforderung angehen können.
Bei einem Design Sprint durchläuft man vor Ort fünf Phasen in fünf Tagen. Wie unterscheidet sich euer Remote Design Sprint von der klassischen Durchführung?
Henrik: Der Vorteil eines klassischen Sprints: Das Projektteam kommt für 5 Tage in einem Raum zusammen, um sich auszutauschen und dabei intensiv an Lösungen zu arbeiten. Durch Corona war dies leider nicht möglich. Wir haben den Workshop dann als Online-Discovery Sprint durchgeführt. Analyse und Ideation waren auf zwei Wochen verteilt. Darauf folgte eine verlängerte, zweiwöchige Prototyping-Phase für mehr Varianz im Interface Design.
Wie fühlt sich das veränderte Vorgehen für dich als Kundin bzw. als Moderator an? Was sind Vorteile, Design Sprints remote durchzuführen statt vor Ort?
Christiane: Gerade in der Zeit von Corona war es ein erleichterndes Gefühl für Merck, durch eine virtuelle Alternative flexibler zu sein. Für uns war es wichtig, auch weiterhin an strategischen Projekten arbeiten zu können. Durch die Entzerrung der Tage gab es genug Luft und Kapazität, um sich um das Daily Business zu kümmern. Auch wenn unsere verschiedenen Sprint-Teile zeitlich entzerrt waren, hatte wir nie das Gefühl, dass wir die Teilnehmenden „verloren“ hatten – ganz im Gegenteil: alle waren immer sehr bei der Sache.
Henrik: Ich finde auch: Die Luftigkeit des Prozesses hat uns das Arbeiten wesentlich angenehmer gemacht. Gleichzeitig hatten wir einen tollen Zusammenhalt im Team: Wegen Corona waren wir alle in unseren Homeoffices gefangen. Das hat schon sehr zusammengeschweißt. Persönlich fand ich diesen Sprint einen der spannendsten in meiner Laufbahn als Design Facilitator.
Was ist wichtig, damit ein Design Sprint auch remote funktionieren kann?
Henrik: Bei einem klassischen Design Sprint kommen alle Beteiligten in einem Raum zusammen. Das Team befragt externe Expertinnen und Experten und teilt das Verständnis für Probleme und ungelöste Fragen. Das mussten wir remote anders lösen. Wir mussten einen Wissenstransfer sicherstellen, um als externe Designer die komplexen Prozesse rund um die Human Resources bei Merck zu verstehen und ans gesamte Sprint-Team weitergeben zu können: Wo müssen welche Entscheiderinnen und Entscheider zusammenkommen? An welchen Stellen gibt es Einzel- bzw. Teambesprechungen? Welche Tools werden in welcher Form eingesetzt? Hier war das Onboarding durch Christiane extrem hilfreich – sowohl bei der fachlichen Einführung, der Vorab-Vorstellung der Stakeholder oder bei der Rekrutierung von Interviewpartnerinnen und -partner. Trotz der remote Situation haben wir von ihr jederzeit genau DEN Input erhalten, den wir benötigen.
Es scheint, dass ihr sehr viel mit kollaborativen Online-Tools gearbeitet habt. Wie haben die euch unterstützt? Wie haben sie sich als Kundin in diese Tools eingearbeitet?
Henrik: Die richtigen Tools in Kombination mit dem Timing waren neben dem Onboarding ein zweiter wichtiger Erfolgsfaktor. Vermutlich haben wir in dem Sprint die wohl größte „Prozess- und Wireframe-Tapete“ in der Geschichte der Design Sprints erstellt. Online ist die Arbeitsfläche unendlich. Und genau deswegen ist ein perfektes Zeitmanagement unerlässlich. Persönlich präferiere ich hierbei einen Drilldown der Agenda auf 5 Minuten genau. Online lässt sich zwar sehr effizient arbeiten, aber niemand kann länger als 45 Minuten eine Teamdiskussion fokussiert vor dem Bildschirm mitverfolgen. Deshalb haben wir größere Sprint-Blöcke in kleinere Einheiten und die Arbeit in Teams unterteilt.
Christiane: Anders als Henrik und sein Team haben wir noch nie mit Tools wie Miro oder Mural gearbeitet. Man muss sich zwar erstmal in die üppige Sprint Map einfinden, aber danach hat sich das für uns sehr richtig und intuitiv angefühlt. Durch den Sprint sind wir auf Miro aufmerksam geworben und haben es seitdem sogar intern mehrfach genutzt.
Nach dem Onboarding, was waren eure Schritte im Projekt?
Henrik: Im ersten Schritt haben wir eine Map des Themas entwickelt, in der wir mögliche Sprintfragen und -schwerpunkte visualisierten. Nach Jake Knapp führt das Sprintteam am ersten Sprinttag circa 2 bis 3 Interviews durch, um die Map mit weiterem Wissen anzureichern. Die Recruiting- und Personalprozesse bei Merck sind jedoch sehr komplex. Daher haben wir die Interviews vom Rest des Teams entkoppelt und in eineinhalb Tagen 7 Tiefeninterviews durchgeführt. Mit diesem Breiten- und Tiefenwissen konnten wir im Team innerhalb kürzester Zeit über das Sprintziel entscheiden.
Nachdem wir die Sprintfragen festgelegt hatten, haben wir uns bestehende Lösungen angesehen: Wie organisieren andere Firmen große Datenmengen? Wie lassen sich Entscheidungen durch Visualisierungen unterstützen? Können wir davon lernen oder unsere Ideen gar darauf aufbauen? Zusätzlich nutzten wir auch experimentellere Techniken wie das Picture storming, um Ideen zu generieren. Daraus entstanden ersten Ideenskizzen in Form von Wireframes und Collagen, die wir mehrfach mit Christianes Team reflektiert und iterativ verbesserten. Auch hier erwies es sich als Vorteil, dass wir viele Miro-Bausteine als Templates wiederverwenden konnten – seien es Interaktionskonzepte oder Infodesign-Visualisierungen. So konnten wir relativ schnell neue Varianten erschaffen. Diese Bandbreite an Varianz hätten wir in einem analogen Sprint mit Post-its nicht erreicht.
Das Ergebnis habt ihr mit Nutzern getestet. Dabei habt ihr euch für eine Gruppendiskussion entschieden. Das ist für einen Design Sprint eher unüblich. Wieso diese „Abweichung“ vom Standard?
Henrik: Die Prototypen sehen ein Interaktionskonzept vor, in dem jede Geschäftsführerin und jeder Geschäftsführer die Karriereplanung für den eigenen Sektor en détail auf ihrem bzw. seinem iPad vornehmen kann. Die iPads sind vernetzt mit größeren Screens im Konferenzraum, welche die Agenda tracken, Abstimmungsergebnisse visualisieren und die Sicht auf die Daten visuell unterstützen.
Dank des sehr individualisierten Discovery Sprints arbeiteten wir in diesem Stadium der Ideenfindung bereits mit sehr detaillierten Konzepten. Zudem brauchte es viel Vorwissen, um die Fachlichkeit und den Innovationsgehalt der Ideen bewerten zu können. Anstelle des User Tests haben wir die Ideen in einer Fokusgruppe mit unseren Stakeholdern diskutiert. Die Teilnehmenden hatten das notwendige Vorwissen, um Schwächen zu entdecken und Stärken herauszuarbeiten. Auch im Hinblick auf das Zeitmanagement war die einstündige Fokusgruppe 6 einstündigen Nutzertests deutlich überlegen. Das gewonnene Feedback konnten wir einarbeiten und nur einen Tag später mit optimiertem Konzept präsentieren.
Habt ihr noch letzte Tipps für andere, die ebenfalls vor der Herausforderung stehen, einen Design Sprint remote durchzuführen?
Henrik: Auch mal Luft lassen. Wer den klassischen Design Sprint kennt, der weiß: Spätestens nach vier Tagen ist die Luft raus. Den Sprint auf mehrere Wochen aufzuteilen, hat dem Ergebnis und dem Team sehr gut getan. Es gab Pausen zur Reflexion und Diskussionen. In diesen konnten wir mit Abstand auf unsere Lösungen schauen, diese intensiv diskutieren und optimieren. Im Prototyping sind so viel ausgereiftere Ergebnisse entstanden, als wenn wir in fünf Tagen unter ständigem Zeitdruck durchgesprintet wären. Ich finde es sinnvoll, Methoden und Prozesse zu variieren: Was passt zu den aktuellen Gegebenheiten? Wie kann man das besten aus den bestehenden Ressourcen herausholen? Was macht inhaltlich Sinn?
Christiane: Ich fand unser Vorgehen sehr produktiv. Anderen Unternehmen kann ich nur den Tipp geben: Überlegt Euch genau, welche Stakeholder wann involviert sein sollten. Dabei sollte man „Dopplungen“ vermeiden. Das ist nicht immer einfach, weil man natürlich inklusiv sein möchte. Ich würde fünf bis maximal sechs Teilnehmende empfehlen. So lässt sich leichter eine Lösung finden.
Und das Ergebnis? Wie findet ihr das? Wie geht es damit weiter?
Christiane: Zunächst muss ich sagen, dass die Zusammenarbeit mit UID sehr viel Spaß gemacht hat. Zugleich war sie sehr professionell und effektiv. Wir hatten einen tollen Austausch und haben viele inspirierende Impulse erhalten – trotz Remote-Setting. Auch mit dem Resultat sind wir sehr glücklich. Wir sind sehr zielgerichtet unser Problem angegangen. Der Design Sprint hat uns vor allem Klarheit gebracht über die einzelnen Themen und Arbeitspakete und wie diese zusammenhängen. Wir haben die Ergebnisse intern vorgestellt. Nun müssen wir mit weiteren Stakeholdern wie der IT intern besprechen, wann und wie wir die Lösung weiter vorantreiben wollen.
Henrik: Christiane hat da etwas sehr Wichtiges gesagt: Viele glauben, dass ein Design Sprint alle Probleme lösen kann. Das Projekt zeigt aber sehr gut: Beim Design Sprint geht es eher darum, eine Richtung festzulegen, in die weiter investiert werden kann. Aus Sicht des Facilitators kann ich sagen: Auch wir sind begeistert, was wir remote in dem Projekt erreicht haben. Ich bin gespannt auf die Umsetzung. Über die 4 Wochen waren wir ein Designteam – nicht Agentur und Kunde. Bei der Komplexität der Merck-Fragestellung wage ich zu behaupten, dass wir in der Lage sind, wirklich JEDES komplexe Thema mit einem derart gelagerten Discovery Sprint zu durchdringen.
Die Interview-Partnerin
Christiane Dietz ist seit 2015 bei der Merck KGaA in Darmstadt und in ihrer aktuellen Position als Senior Expert Talent, Development & Recruiting tätig. Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Digitalisierungsstrategie des Personalentwicklungsbereiches und die nutzerfreundliche Gestaltung des Talent & Development Portfolio „50.000 Talente“ weltweit bei Merck. Christiane Dietz verfügt über langjährige HR-Erfahrung, u.a. war sie bei Merck als Recruiter und Program Manager für das globale Trainee-Programm zuständig und war zuvor bei Amazon im Bereich Recruiting tätig. Sie studierte Internationales Management in Frankfurt am Main.