30.05.2017
Intuitive Nutzung – Ohne Anleitung zu positiven Nutzererlebnissen
Ganz gleich ob Software, Website, Auto oder Kaffeemaschine – heute soll alles „intuitiv“ bedienbar sein. Im Alltag wird mit dem Begriff in der Regel eine einfache und direkte Art der Nutzung assoziiert, die nahezu mühelos zu funktionieren scheint: Wir wissen wie von selbst, wie ein bestimmtes Produkt genutzt werden kann. Doch was ist das für ein Wissen, auf das der Mensch beim Nutzen von Produkten zurückgreift? Wie wird aus Wissen Intuition? Und vor allem: An welches Vorwissen knüpft man bei der Konzeption von Produkten am besten an, um bei möglichst vielen Anwendern intuitive Nutzungserlebnisse zu erzeugen?
Die Fachliteratur spricht von intuitiver Nutzung, wenn ein Nutzer ein Produkt verwenden kann, indem er unbewusst Vorwissen anwendet. Mit minimalem kognitiven Aufwand erfährt er so eine effektive, effiziente und zufriedenstellende Mensch-Maschine-Interaktion. Unbewusst sind Vorgänge und Handlungen, die ablaufen, ohne dass sie einer weiteren Kontrolle oder Reflexion unterliegen. Was abstrakt klingt, lässt sich leicht veranschaulichen:
Beim Mikado-Spiel konzentriert man sich angestrengt, um ein Stäbchen kontrolliert anzuheben, ohne die anderen zu bewegen. Wer hingegen nach einer Kaffeetasse greift, überlegt nicht lange, wie genau man Arm und Hand bewegen muss. Er tut es einfach. Der gewohnte Griff zur Kaffeetasse erfolgt mühelos und intuitiv, weil man dabei unbewusst auf Vorwissen zurückgreift, das einem die Bewegungsabläufe erleichtert. Doch welche Arten von Vorwissen gibt es?
Wissen ist nicht gleich Wissen
Es existieren fünf verschiedene Stufen von Wissen: Das angeborene Wissen, das sinnliche Erfahrungswissen, das Kulturwissen, das Expertenwissen und das Werkzeugwissen. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf Spezialisierungsgrad und Reichweite. Je spezifischer das Wissen, desto weniger verbreitet ist es. Während also jeder gesunde Mensch über angeborene Reflexe verfügt, finden sich verhältnismäßig wenig Menschen, die eine industrielle Schweißmaschine richtig nutzen können. Für die Konzeption und Gestaltung von Produkten bedeutet das: Je heterogener die Nutzergruppe, desto allgemeingültiger sollte das Vorwissen sein, auf dem aufgebaut wird.
Back to basics
Ein Produkt, das international von Menschen verschiedener Altersklassen und Berufsgruppen genutzt wird, sollte nicht an Expertenwissen oder kulturspezifische Vorerfahrungen einzelner Nutzergruppen anknüpfen. Stattdessen können in diesem Fall Image Schemata hilfreich sein.Image Schemata sind im Gedächtnis gespeicherte Wissensstrukturen, die sich infolge wiederkehrender sinnlicher Erfahrungen herausgebildet haben. Man kann sie als nahezu allgemeingültig betrachten, weil sie von klein auf gelernt und eingeübt wurden.
So bekommt man beispielsweise über die sinnliche Wahrnehmung eine Vorstellung von Konzepten wie „innen-außen“, „oben-unten“, „nah-fern“. Einmal gespeicherte Image Schemata lassen sich miteinander verknüpfen und auf andere Anwendungsbereiche übertragen: So hat sich beim Menschen etwa ein Schema etabliert, das „oben“ mit „viel“ und „unten“ mit „wenig“ gleichsetzt. Auf Benutzeroberflächen findet sich dieses Konzept häufig wieder: Man denke etwa an den Schieberegler, der auf PCs, Laptops oder Smartphones die Lautstärke regelt.
Intuition durch Konsistenz
Je spezialisierter Produkte sind, desto schwieriger wird es, auf allgemeinem Wissen aufzubauen. Doch intuitive Nutzung lässt sich auch auf der Ebene des Experten- und Werkzeugwissens erreichen. Der Schlüssel hierzu ist die konsistente Gestaltung. Sind die Interaktionsstrukturen von Anwendung zu Anwendung hochgradig konsistent, können Nutzer ihr einmal erlerntes Wissen mühelos von einem Anwendungsbereich auf den anderen übertragen. Wer beispielsweise gelernt hat, dass sich Wörter in einem Textprogramm über das gleichzeitige Drücken und Ziehen der Maus markieren lassen, weiß auch intuitiv, wie man hintereinanderliegende Zellen in einer Tabellenkalkulation selektiert.
Wenn die Realität zum Vorbild wird
Das Streben nach möglichst natürlichen, intuitiven Interaktionsmustern und -mechanismen hat den sogenannten Natural User Interfaces zum Durchbruch verholfen. Natural User Interfaces sind Benutzerschnittstellen, die an gelernte Denk- und Handlungsmuster aus dem Alltag anknüpfen und diese möglichst realitätsgetreu übernehmen. Statt über diverse Ein- oder Eingabegeräte (z. B. Monitor, Tastatur, Maus) kann der Nutzer bei Natural User Interfaces direkt mit der Bedienoberfläche interagieren und zwar beispielsweise über Sprache, Gesten oder andere körperliche Interaktion.
Dabei interagiert der Nutzer so mit den virtuellen Elementen der Benutzungsoberfläche, wie er es auch mit realen Objekten tun würde. Ein Beispiel für ein Natural User Interface, das jeder aus dem Alltag kennt, ist das Smartphone: Mit einer Fingerbewegung kann der Nutzer hier Listen in eine bestimmte Richtung bewegen, bis sie sich durch virtuelle Reibung verlangsamen. So würde sich auch ein reales Objekt verhalten, wenn man es auf einer Tischplatte anschiebt.
Garantiert intuitiv?
Was bleibt nach diesem Streifzug durch die Welt der intuitiven Nutzung? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass es keinen Masterplan für intuitive Bedienung gibt. Wer intuitiv nutzbare User Interfaces gestalten will, muss sehr sorgfältig arbeiten und viel Hintergrundwissen in sein Projekt einfließen lassen. Einfache Gleichungen gehen nicht auf. Nur weil der Nutzer etwa mit einem virtuellen System sprechen kann, muss er die Interaktion noch lange nicht als intuitiv empfinden. Umgekehrt können auch komplexe Systeme quasi intuitiv nutzbar sein, solange sie konsistent gestaltet sind und an einmal gelerntes Wissen anknüpfen. Welche Art der intuitiven Interaktion angemessen ist und welche Wissensstrukturen passen, müssen UI-Experten immer im Kontext untersuchen, bevor gestaltet werden kann.
Der Autor
Prof. Dr. Michael Burmester ist Principal Scientific Advisor bei UID. Von 2002 bis Dezember 2010 war er Berater Research and Innovation bei UID. Seit 2002 ist Dr. Michael Burmester Professor für Ergonomie und Usability im Studiengang Informationsdesign an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart. Er forscht zu Methoden des Usability Engineering und der User Experience sowie zu den Themenfeldern Human-Robot Interaction, interaktive Informationsgrafiken und Informationsunterstützung für Passagiere. Zudem leitet er seit 2005 den Forschungsschwerpunkt User Experience Research am Institute of Information Design Research (IIDR) der HdM.
Weitere Infos
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