06.03.2024
Wie Frauen in Medizin und UI-Gestaltung besser einbezogen werden können
Bei der Entwicklung von UIs ist es uns vor allem im Bereich Medizintechnik besonders wichtig, alle Nutzungsgruppen zu berücksichtigen und alle Bedürfnisse zu erfüllen. Demografische Daten wie das Alter der Zielgruppe sind dabei relevant. Aber auch das Geschlecht spielt bei der nutzerzentrierten Gestaltung eine Rolle.
In der medizinischen Forschung ist dies jedoch bisher oft nicht der Fall. Viele Medikamente und Behandlungen sind oft vor allem für Männer bestimmt und bei Frauen weniger wirksam. Woran das liegt und was wir dagegen tun können, erfahrt ihr in unserem Beitrag.
Klinische Studien sind wissenschaftliche Untersuchungen, die durchgeführt werden, um die Wirksamkeit, Sicherheit und/oder Verträglichkeit medizinischer Interventionen wie Medikamente, Behandlungsverfahren, medizinische Geräte oder Verhaltensänderungen zu bewerten. Diese Studien sind von entscheidender Bedeutung, um neue Behandlungsmethoden zu entwickeln, bestehende Ansätze zu verbessern und medizinische Erkenntnisse zu erweitern.
Das Problem dabei? Oft sind bei den Studien nur wenige Frauen unter den Teilnehmenden. Insbesondere bestimmte Altersgruppen oder spezifische Gesundheitszustände werden nicht ausreichend einbezogen. Dies kann zu einer Verzerrung der Forschungsergebnisse führen und die Entwicklung geschlechtsspezifischer Behandlungsansätze erschweren. Durch die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien bleiben diese geschlechtsspezifischen Unterschiede oft unberücksichtigt, was zu ungenauen und möglicherweise unangemessenen Behandlungsansätzen führen kann. Denn Frauen und Männer können sich in Bezug auf Krankheitsprävention, Symptome, Krankheitsverlauf und Behandlungsreaktionen unterscheiden.
Warum ist das so?
Der weibliche Körper unterliegt aufgrund hormoneller Schwankungen im Menstruationszyklus, während einer Schwangerschaft und in den Wechseljahren einer höheren biologischen Komplexität. Manche Forscher:innen befürchten, dass diese Schwankungen die Ergebnisse der Studien verzerren könnten.
Einige klinische Studien schließen zudem Frauen aufgrund ihrer potenziellen Schwangerschaft oder hormoneller Veränderungen aus. Dies soll mögliche Risiken für den Fötus vermeiden, führt aber gleichzeitig zu einer Unterrepräsentation von Frauen in entsprechenden Studien.
Klinische Studien erfordern außerdem oft Zeit, Mobilität und die Bereitschaft zur Einhaltung bestimmter Vorschriften. Da der Anteil an Frauen, die sich um die Familie und die Kinder kümmern, immer noch höher ist als bei den Männern, können diese die Anforderungen oft schwerer erfüllen. Stereotype und traditionelle Rollenerwartungen können Frauen zusätzlich dazu bringen, sich weniger mit wissenschaftlicher Forschung und medizinischen Studien zu beschäftigen. Das macht eine Teilnahme noch unwahrscheinlicher.
Beispiele aus unserem Alltag
Im alltäglichen Leben lassen sich verschiedene Beispiele finden, die auf die Benachteiligung von Frauen in klinischen Studien und der medizinischen Forschung hinweisen:
- Medikamentenwirkung und Nebenwirkungen: Studien haben gezeigt, dass Frauen auf bestimmte Medikamente anders reagieren als Männer. Aufgrund der Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien können jedoch Informationen über geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medikamentenwirkung und Nebenwirkungen fehlen. Dies kann dazu führen, dass Medikamente für Frauen möglicherweise weniger wirksam oder mit höheren Risiken verbunden sind.
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind bei Frauen eine der häufigsten Todesursachen. Dennoch wurden viele diagnostische und therapeutische Ansätze in erster Linie an männlichen Probanden entwickelt. Die Symptome von beispielsweise Herzinfarkten können bei Frauen anders sein als bei Männern, was zu Fehldiagnosen und verzögerter Behandlung führen kann.
- Psychische Gesundheit: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Prävalenz, Symptomatik und Behandlung von psychischen Erkrankungen werden oft nicht ausreichend untersucht. Frauen sind beispielsweise häufiger von Depressionen und Angststörungen betroffen, aber die Forschung konzentriert sich nicht immer ausreichend auf ihre spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen.
- Autoimmunerkrankungen: Autoimmunerkrankungen, wie z. B. Rheumatoide Arthritis oder Lupus, treten bei Frauen häufiger auf. Dennoch werden viele Studien zur Entwicklung neuer Therapien oder zur Bewertung von Behandlungsmöglichkeiten überwiegend an männlichen Probanden durchgeführt. Dies kann zu einer unzureichenden Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Krankheitsentstehung und Behandlung führen.
- Sportmedizin: In der Sportmedizin werden oft Trainingsprogramme und Empfehlungen hauptsächlich auf Grundlage von männlichen Studienteilnehmern entwickelt. Dies kann dazu führen, dass Frauen nicht die spezifischen Informationen und Anleitungen erhalten, die sie benötigen, um ihre sportliche Leistung zu optimieren oder Verletzungen zu vermeiden.
Durch die Digitalisierung des Gesundheitssystem wird diese Problematik von der analogen Welt in die digitale übertragen. Ein Beispiel dafür sind Gesundheits-Apps, die auf künstlicher Intelligenz basieren. Die integrierten Algorithmen verwenden häufig Datensätze, die vorwiegend den weißen, männlichen Teil der Weltbevölkerung repräsentieren. Dadurch werden Frauen nicht angemessen berücksichtigt.
Ob Digital Health Apps, DiGA oder E-Rezept – die Nutzungsgruppen digitaler Gesundheitsanwendungen werden wachsen. Nicht mehr nur medizinisches Fachpersonal, sondern auch Patient:innen selbst bedienen diese Anwendungen. Um diesen Zielgruppen einen niederschwelligen und einfachen Zugang in die Digitale Health Welt zu ermöglichen, braucht es menschenzentrierte Anwendungen, die die Bedürfnisse der oft heterogenen Zielgruppen berücksichtigen. Dazu gehören gesundheitliche, altersbedingte, aber auch geschlechterspezifische Anforderungen.
Übrigens: Unsere Kolleg:innen von der BAYOOMED GmbH beschäftigen sich schon länger mit dem Thema FemTech (Female Technology) und launchten beispielsweise die App MyIUS, die Frauen mit einer Hormonspirale (IUS) dabei hilft, ihren Zyklus zu tracken.
Exkurs: Wie sich das Geschlecht auf die UX auswirken kann
Im Bereich UX (User Experience) werden neben anderen Faktoren auch unterschiedliche Ansätze zwischen Männern und Frauen in Erwägung gezogen, um die Bedürfnisse und Präferenzen aller Geschlechter besser zu berücksichtigen. Diese Ansätze basieren auf der Erkenntnis, dass das Geschlecht Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen Technologie nutzen und mit ihr interagieren, beeinflussen kann.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese Ansätze nicht immer auf alle Individuen zutreffen. Jeder Mensch ist unterschiedlich, egal welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlt. Aspekte wie Verhalten und Präferenzen werden von vielen verschiedenen Faktoren wie Alter, Bildungsstand und soziale Herkunft beeinflusst.
Ein nutzerzentrierter Ansatz versucht immer, individuelle Bedürfnisse und Kontexte zu berücksichtigen, wozu das Geschlecht ebenfalls gehört. Unser Innovations-Experte Yasin Demiraslan begleitet seit über 10 Jahren insbesondere Kunden im Medical & Pharma-Bereich bei der Entwicklung ihrer UX-Strategie für menschenzentrierte Produkte. Folgende Besonderheiten sind seiner Erfahrung nach bezüglich des Geschlechts relevant, wenn es um die Bedienung digitaler Anwendungen geht:
- Design-Präferenzen: Männer und Frauen können unterschiedliche Vorlieben für Farben, Schriftarten, Bilder und Layouts haben. Diese Vorlieben können sich auf die allgemeine Ästhetik und Attraktivität einer Benutzeroberfläche auswirken.
- Navigation und Informationsstruktur: Einige Frauen neigen dazu, sich stärker auf Menüstrukturen und Navigationselemente zu verlassen, während Männer möglicherweise eher dazu neigen, direkte Suchfunktionen zu nutzen. UX-Designer können diese Unterschiede berücksichtigen, um die Benutzerführung zu optimieren.
- Kommunikationsstil: Frauen und Männer können unterschiedliche Kommunikationsstile bevorzugen. Einige Frauen legen mehr Wert auf klare, umfassende Informationen und Kontext, während einige Männer eher präzise und kurzgefasste Informationen bevorzugen. Natürlich lässt sich aber auch hier keine pauschale Aussage treffen.
- Emotionale Ansprache: Manche Frauen reagieren stärker auf emotionale Ansprache und empathische Elemente, während manche Männer eher auf sachliche und rationale Darstellungen reagieren. UX-Designer können dies in der Art und Weise, wie sie Botschaften vermitteln, berücksichtigen.
- Funktionalität: Frauen könnten ein größeres Interesse an Funktionalitäten haben, die auf soziale Interaktion und Gemeinschaftsbildung abzielen, während Männer möglicherweise mehr auf technische Aspekte und Innovation achten. Wenn man digitale Anwendungen zur Therapiebegleitung entwickelt, kann man unter Berücksichtigung dieser Präferenzen bessere und breitere Erfolge erzielen.
Was wir gegen die Unterrepräsentation von Frauen tun können
Neben Produktgestaltungen, die alle Nutzenden einschließen, sind schon in der Forschung Maßnahmen nötig, um diese Benachteiligungen zu überwinden. Um eine gerechtere Forschungsumgebung zu schaffen, müssen wir aktiv handeln:
- Gezielte Rekrutierung: Es ist wichtig, gezielte Rekrutierungsstrategien zu entwickeln, um Frauen aktiv in klinische Studien einzubeziehen. Eine breitere und repräsentativere Teilnehmerbasis ermöglicht eine bessere Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede.
- Sensibilisierung und Schulung: Forschungsteams müssen sich der geschlechtsspezifischen Unterschiede bewusst sein und geschlechtsspezifische Aspekte in Studiendesign und Analyse integrieren. Sensibilisierungsmaßnahmen und Schulungen können dazu beitragen, das Bewusstsein für diese wichtigen Themen zu schärfen.
- Zusammenarbeit und Vernetzung: Eine enge Zusammenarbeit zwischen Forschungsinstitutionen, medizinischen Fachgesellschaften und Regulierungsbehörden ist entscheidend, um eine geschlechtssensible Forschung zu fördern und die Integration von Frauen in klinische Studien voranzutreiben.
- Förderung der Diversität: Die Berücksichtigung von Diversität in Forschungsteams kann zu einer umfassenderen Betrachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede führen. Die Einbeziehung von Forscherinnen in leitende Positionen und Entscheidungsprozesse ist ebenfalls wichtig, um eine ausgewogene Perspektive sicherzustellen.
Fazit
Die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien ist nicht nur ein statistisches Problem, sondern eine Frage der medizinischen Gerechtigkeit und Effektivität. Die bisherigen Fortschritte sind ermutigend, aber es besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf, um sicherzustellen, dass medizinische Erkenntnisse für alle Geschlechter gleichermaßen relevant und anwendbar sind.
Die vielschichtigen Auswirkungen der Unterrepräsentation sind deutlich: Medikamente, Therapien und Behandlungsansätze, die hauptsächlich an Männern getestet wurden, könnten für Frauen weniger wirksam oder potenziell riskanter sein. Geschlechtsspezifische Unterschiede in Krankheitsverläufen und Reaktionen auf Behandlungen könnten übersehen werden, was zu verzerrten Ergebnissen und verpassten Chancen führt.
Um diese Herausforderungen anzugehen, ist ein koordiniertes Vorgehen erforderlich. Das beinhaltet die gezielte Rekrutierung von Frauen für klinische Studien, die Entwicklung von sensibilisierenden Schulungen für Forscher, um geschlechtsspezifische Aspekte zu berücksichtigen, sowie die Schaffung flexibler Arbeitsbedingungen, die die Teilnahme von Frauen erleichtern. Die Förderung weiblicher Führungskräfte in der medizinischen Forschung wird auch dazu beitragen, eine inklusivere Forschungskultur zu etablieren.
Letztlich ist die geschlechtergerechte Forschung ein zentraler Schritt hin zu einer besseren Gesundheitsversorgung für alle. Die Berücksichtigung von Geschlechtsunterschieden in klinischen Studien wird nicht nur die Genauigkeit der medizinischen Erkenntnisse erhöhen, sondern auch die Möglichkeit bieten, personalisierte und effektivere Behandlungen zu entwickeln, die auf die einzigartigen Bedürfnisse von Frauen und Männern zugeschnitten sind – und das sollte auch für digitale Anwendungen/Möglichkeiten gelten. Hierbei hilft der nutzerzentrierte Ansatz, der individuelle Bedürfnisse und Kontexte – wozu das Geschlecht ebenfalls gehört – von Anfang an in der Produktentwicklung berücksichtigt.
Die Autor:innen
Von Online Marketing bis Text – Svenja gestaltet mit dem Team der Corporate Communications die Kommunikation von UID. Nach Abschluss ihres Masterstudiums in Sales und Marketing ist sie seit 2022 Teil des Teams in Ludwigsburg.
Yasin ist Senior Manager Strategic Marketing bei UID. In dieser Funktion steuert er das strategische Marketing bei UID und optimiert die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Darüber hinaus betreut er UID-Kunden vorwiegend aus dem nord- und mitteldeutschen Raum. Yasin absolvierte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Unternehmensführung und Innovationsmanagement an der TU Dortmund.