18.09.2024
Healthcare Customer Experience
Wie neue Technologien Diagnostik und Therapie verändern
Customer Experience (CX) gewinnt in der Medizin- und Gesundheitsbranche zunehmend an Bedeutung. Patient:innen und Fachkräfte erwarten heute nicht nur effektive, sondern auch nutzungsfreundliche Lösungen – von Medizinprodukten über Health-Apps bis hin zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Doch wie können Unternehmen in der Medizinbranche dieser Herausforderung gerecht werden?
Was ist Medical Customer Experience?
Customer Experience (CX) beschreibt die Gesamtheit der Erfahrungen, die Kund:innen bei der Interaktion mit einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Marke machen – von der ersten Kontaktaufnahme bis hin zur langfristigen Nutzung. Traditionell war der Bereich CX stark von der Konsumgüter- und Dienstleistungsbranche geprägt, insbesondere in Sektoren wie E-Commerce, Einzelhandel und Technologie. Unternehmen wie Apple und Amazon gelten als Vorreiter, weil sie das Nutzungserlebnis konsequent in den Mittelpunkt ihrer Produktentwicklung gestellt haben. Nun wird CX zunehmend auch in der Medizin- und Gesundheitsbranche relevant. Mit der fortschreitenden Digitalisierung haben Patient:innen und medizinisches Fachpersonal höhere Erwartungen an die Nutzungsfreundlichkeit und Effizienz der Produkte.
Customer Experience stellt das allgemeine Kundenerlebnis rund um ein Unternehmen und seine Produkte dar – mit Fokus auf eine langfristig angelegte Kundenbeziehung. Bei Health-Anwendungen spielen unter anderem Vertrauen, Datenschutz und Integration in bestehende Systeme eine wichtige Rolle. CX deckt all diese Berührungspunkte ab – vor, während und nach der eigentlichen Nutzung der Anwendung.
Innovationen durch Digitalisierung und KI
Digitalisierung und neue Technologien beeinflussen die Entwicklungen in der Gesundheitsbranche und ermöglichen gleichzeitig eine präzisere Diagnostik, personalisierte Behandlungen und effizientere Arbeitsabläufe im Gesundheitswesen. Die Innovationen im Health-Sektor reichen von digitalen Therapiebegleitern (DiGA) über Telemedizin bis hin zum Einsatz von KI als Ergänzung zur ärztlichen Diagnose. Die Akzeptanz dieser Technologien hängt davon ab, ob die Nutzung einfach, sicher und nahtlos ist – nur durch eine positive CX können diese Innovationen langfristig das Gesundheitswesen verbessern.
DiGA
- Bis September 2024 wurden 35 DiGA dauerhaft im DiGA-Verzeichnis des BfArM aufgenommen. Diese unterstützen zum Beispiel bei der Therapie von Depressionen, Knieproblemen, Raucherentwöhnung oder Adipositas. Insbesondere DiGA sollten sich durch eine besonders nutzungsfreundliche Experience auszeichnen, um die Therapietreue (Adhärenz) der Patient:innen zu erhöhen.
Telemedizin
- Die mit dem deutschen Gründerpreis 2024 ausgezeichnete App von Dermanostic bietet Menschen mit Hautveränderungen eine unkomplizierte und schnelle dermatologische Behandlung.
- Die Telemonitoring-Plattform für Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Noah Labs verbindet Patient:innen und ihre Behandler:innen für eine ortsunabhängige, datengestützte Versorgung und Forschung.
Künstliche Intelligenz
- Forschungsprojekt Projekt ViKI: KI in der Langzeitpflege
- Forschungsprojekt TraumAInterfaces: KI-Systeme für die Notaufnahme
- Forschungsprojekt GI-Insight: Künstliche Intelligenz als Spezialistin für Magenspiegelungen
- Forschungsprojekt der Uniklinik Köln: KI-gestützte Plattform zur Lungenkrebsdiagnostik
- Bereits weltweit im Einsatz ist die Chirurgie-Plattform von Caresyntax, die 2024 mit dem KI-Anwenderpreis ausgezeichnet wurde. Die Anwendung nutzt KI, um riesige Datenmengen (zum Beispiel zur Operationsplanung, Problemerkennung und Überwachung) zu analysieren, um Effizienz, Sicherheit und die medizinischen Ergebnisse bei chirurgischen Operationen zu verbessern.
Unterschiedliche Anforderungen von Fachpersonal und Patient:innen
Medizinische Lösungen müssen auf unterschiedliche Zielgruppen und Nutzungskontexte zugeschnitten sein. Bei der Gestaltung der Customer Experience gibt es Unterschiede zwischen Anwendungen, die für Patient:innen entwickelt wurden (Consumer Medical), und solchen, die für Fachpersonal bestimmt sind (Industrial Medical). Hinzu kommen Anwendungen, die beiden Zielgruppen gerecht werden müssen. Aus den Erkenntnissen unserer Medical-Studien lassen sich dabei folgende zentrale Anforderungen pro Zielgruppe ableiten:
Effizienz & Sicherheit
Medizinisches Fachpersonal – von Ärzt:innen bis hin zu Pflegekräften – benötigt Medizintechnik, die nicht nur leistungsfähig ist, sondern vor allem den klinischen Alltag erleichtert, besonders in einer Umgebung, in der jede Sekunde zählt und die Patientensicherheit oberste Priorität hat.
- Intuitive Bedienung: Geräte und Software sollten so einfach wie möglich zu bedienen sein („Don’t make me think!“), da die Behandlung oder Diagnose von Patient:innen im Zentrum steht und nicht das Bedienen von Maschinen.
- Sicheres Design: Geräte sollten so gestaltet sein, dass sie bequem und vor allem sicher in der Handhabung sind – fehlerhafte Bedienhandlungen können in diesem Kontext massive gesundheitliche Schäden nach sich ziehen.
- Präzise Messdaten: Die Geräte müssen genaue und konsistente Ergebnisse liefern, um fundierte medizinische Entscheidungen zu unterstützen.
- Unkomplizierte Reinigung und Wartung: Außerordentlich wichtig im medizinischen Alltag ist die einfache Reinigung und Wartung sowie ein zuverlässiger Service, um Ausfallzeiten zu minimieren.
- Effiziente Schulung: Umfassende Schulungsprogramme und leicht zugängliche Schulungsmaterialien helfen medizinischem Personal bei der sicheren Handhabung von neuen Systemen.
- Schneller Support: Verfügbarkeit eines schnellen und effektiven technischen Supports bei Fragen und Problemen.
- Kompatibilität: Die Geräte und Systeme sollten mit den vorhandenen Systemen und Softwarelösungen kompatibel sein.
- Schneller Datenaustausch: Zugriff und Austausch von Daten sollte schnell gehen und gleichzeitig höchste Datenschutzanforderungen erfüllen.
- Sinnvolle Software-Updates: Diese sollten nur erfolgen, wenn sie eine spürbare Verbesserung mit sich bringen oder aus Sicherheitsgründen notwendig sind und möglichst keinen zusätzlichen Aufwand erfordern.
- Moderne Technologien: Eine ständige Weiterentwicklung der Technologien ist wichtig, um medizinisch state of the art zu bleiben.
Einfachheit & Vertrauen
Für viele Patient:innen sind Krankheiten oder medizinische Behandlungen eine Stressquelle – die Technologie sollte diesen Stress nicht verstärken, sondern minimieren.
- Einfache und barrierefreie Bedienung: Geräte und Software sollten ohne technisches Vorwissen einfach und stressfrei zu nutzen sein – auch mit körperlichen Einschränkungen.
- Stressfreie Nutzung: Häufig ist die bestehende Erkrankung ein genereller zusätzlicher Stressfaktor. Gerade dann ist es besonders wichtig, dass die Medizintechnik das Gefühl vermittelt, nichts falsch bzw. kaputt machen zu können.
- Verständliche Gebrauchsanweisungen: Die Gebrauchsanweisung kann entscheidend zur Verbesserung der CX beitragen. Hier sollte besonders darauf geachtet werden, dass sie in einfacher Sprache (ohne medizinische Fachtermini) verfasst ist, der tatsächlichen Reihenfolge der Bedienschritte entsprechend aufgebaut ist und alle relevanten Begriffe im Inhalts- und einem zusätzlichen Stichwortverzeichnis aufgeführt sind. Wichtig sind dabei auch die Lesbarkeit (Schriftgröße!) und die Veranschaulichung der wesentlichen Bedienschritte anhand von Abbildungen.
- Persönliche Aufklärung: Wichtig ist eine umfassende und verständliche Aufklärung und Erläuterung über die Verfahren und den Zweck der Medizintechnik durch die verordnende medizinische Fachperson.
Medical User Research
User Research ist das Fundament einer Medical-Anwendung. Mittels Nutzungsstudien gewinnt ein UX-Design-Team Einblicke in die Bedürfnisse, Herausforderungen und Präferenzen von Patient:innen und medizinischen Fachkräften. Für eine gelungene und sichere Bedienung und eine gute Customer Experience ist es unerlässlich, UX-Konzepte und medizinische Prototypen frühzeitig zu validieren und zu verbessern. Für die Zertifizierung von Medizinprodukten ist daher die Durchführung eines Usability Engineering Prozess nach IEC 62366 inkl. formativer und summativer Evaluation für die Hersteller Pflicht.
Technologische Fortschritte und sich verändernde regulatorische Anforderungen rücken verstärkt in den Fokus bei User Research. Absehbare Trends und Entwicklungen, die mit einer weiteren Verbesserung der Customer Experience einhergehen, sind bereits absehbar:
- Mithilfe von KI können große Mengen an Nutzungsdaten analysiert und Muster erkannt werden, um besser zu verstehen, wie Nutzer:innen mit medizinischen Geräten umgehen werden.
- Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) ermöglichen es, Prototypen von Medizingeräten in einer virtuellen Umgebung zu testen, bevor sie physisch hergestellt werden.
- Medizintechnikhersteller werden in der Lage sein, Daten aus der realen Anwendung von vernetzten Mobilendgeräten, in die Erfassung des Nutzer:innenverhaltens einfließen zu lassen. Diese „Real-World Evidence“ kann wertvolle Erkenntnisse liefern, die in klinischen Studien oft nicht sichtbar werden.
- Fortschritte in der Biotechnologie und 3D-Druckverfahren werden die Personalisierung in der Medizintechnik deutlich verbessern und damit müssen auch verstärkt individuelle Bedürfnisse erhoben werden, die diesen Anforderungen auch entsprechen.
- Nicht zuletzt werden zunehmende regulatorische Anforderungen, wie die MDR (Medical Device Regulation) in Europa, die Hersteller dazu zwingen, Nutzer:innen stärker in die Produktentwicklung einzubeziehen.
Fazit: Customer Experience in der Medizin
Die Customer Experience in der Medizin ist vielschichtig und von den Anforderungen der jeweiligen Nutzergruppe abhängig. Indem Unternehmen die spezifischen Bedürfnisse beider Gruppen in den Mittelpunkt stellen, können sie sicherstellen, dass ihre Medizintechnik nicht nur technologisch auf dem neuesten Stand ist, sondern auch eine positive und nachhaltige Nutzungserfahrung schafft. Eine positive Customer Experience unterstützt den Behandlungserfolg, stärkt Vertrauen in medizinische Technologien, in die Marke und das Unternehmen. Und trägt somit maßgeblich zum Erfolg von Unternehmen in der Gesundheitsbranche bei.
Die Autor:innen
Stefanie Angele ist als Creative Director und UX Lead für die ganzheitliche UX-Entwicklung von digitalen Produkten bei der UID GmbH verantwortlich. Mit dem Innovations-Team bei UID in München erarbeitet Stefanie in enger Zusammenarbeit mit Nutzenden und Kund:innen Anforderungen, gestaltet Interaktionskonzepte mit testbaren Prototypen, und kreiert innovative Produkte für die Welt von heute und morgen. Darüber hinaus entwickelt sie insbesondere im Medizin-Umfeld unter Betrachtung von neuen Technologien und Trends Zukunftsszenarien, um Unternehmensstrategien auf fundierte Einschätzungen zu stützen.
Werner Baum ist UID-Spezialist für User Research mit über 24 Jahren Projekterfahrung. Seine Expertise liegt in der Konzeption und Durchführung von internationalen Research-Projekten, die vielfältige Methoden der Nutzerforschung einbeziehen. Dazu zählen unter anderem Usability Tests, Expert Reviews, ethnografische Studien, Fokusgruppen und Usergruppen sowie Eyetracking. Neben der Gestaltung und Evaluierung von Benutzerschnittstellen von Konsumprodukten bis hin zur Industriemaschine verfügt Werner auch über umfassende Erfahrung in summativen und formativen Evaluierungen für Medizinprodukte.
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